Ein Mahnmal, dass an die Greuel der Militärdiktatur erinnert und davor warnt, nie wieder so etwas geschehen zu lassen.

Foto: Mirjam Harmtodt

Zwei Busstunden liegen zwischen paradiesischen Zuständen und der harten Realität des brasilianischen Alltags. João Pessoa ist wie ein Ausflug in eine Parallelwelt, die Fahrt nach Recife holt uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Entweder schaffen die es in João Pessoa, die Misere gekonnt zu verbergen, oder die Armut zwickt und beißt dort nicht ganz so arg, wie im Rest des Nordosten. Recife jedenfalls begrüßt uns mit einer Geruchswolke aus Chemie, Fäkalien und Waschmittel. Die Stadteinfahrt führt durch eine Favela.

Vom Land in die Favela

Die Familie von Fabios Tante Elice lebt in Olinda, der Nachbarstadt von Recife, und zwar in einer Straße mit 90%iger Arbeitslosigkeit, wie Giovanni, einer der Söhne erzählt. Die Straße ist nicht asphaltiert, die Häuser sind winzig, Müll liegt auf der Straße, die Bewohner sitzen auf den Türschwellen, dazwischen kreischen die Kinder. In nächster Nähe gibt es eine Favela, also eine illegale Siedlung, in der jene leben, die sich in der Stadt mehr Möglichkeiten erwartet haben und nun ein Leben führen, dass menschenunwürdig ist.


Favelas werden oft entlang von verseuchten, verdreckten Bächen und Flüssen gebaut. Das Wasser ist von unbehandelten Abwässern kontaminiert. Eine Brutstätte für Moskitos und Krankheiten, der einen unerträglichen Gestankt nach Tod und Chemie verbreitet.

"Die Regierung schafft es nicht, außerhalb der Städte die nötige Infrastruktur zu schaffen. Also kommen alle in die Städte. Recife und Olinda platzen aus allen Nähten, überall entstehen Favelas, die Menschen bleiben ohne Arbeit, aber zurück können und wollen sie auch nicht mehr", erzählt Giovanni.

Brasilien hat in den letzten zehn, zwanzig Jahren einen rasanten Aufschwung hingelegt, trotzdem ist die Armut von Millionen noch immer allgegenwärtig. Die Einkommensschere ist vor allem hier in Recife riesig.

Unsichtbare aber allgegenwärtige Gefahr

Das größte Problem in Recife ist "crack". Die tötliche Hauptverursacher für die katastrophale Kriminalitätsrate ist. Tatsächlich hat man in beiden Städten permanent das Gefühl, in Gefahr zu sein. "Alle großen Städte in Brasilien sind gefährlich. Aber in Recife bist du ständig auf der Hut. Wenn du durch die Straßen gehst, dann schau immer hinter dich, schau wer neben dir geht und begib dich nicht in menschenleere Gassen", warnt auch Fabio, der wie ein gehetztes Tier durch Recife läuft. Ich spüre zwar die Präsenz der Gewalt, aber ich würde sie auch dann nicht erkennen, wenn sie direkt vor mir steht. Wenn Fabio die Straßenseite wechselt, weil sich seltsame Typen am Gehweg nähern, bleibe ich ein "Hans-Guck-In-Die-Luft" und freue mich, über restaurierte Jahrhundertwendehäuser.

Oft sind es nur eine Hausecke oder eine Straße, die Arm und Reich voneinander trennen. In den gläsernen Fassaden der Hotels und "Condominios" - den gehobenen Wohnhausanlagen - spiegelt sich die Armut jener wider, die es nicht geschafft haben und die auch kaum eine Chance haben, ihre Situation zu verbessern.

Moderne Sklaverei

Und die Regierung? Wieder einmal landen wir beim Müllproblem, das ein gutes Beispiel für die wenig hoffnungsvolle Situation ist. Der Abfall füllt die Straßen, die Gehwege, die wenigen Grünflächen, stinkt zum Himmel und ist Nährboden für Ungeziefer. Ein Straßenfest in Recife, mit traditionellen Tänzen und Musik, zeigt die ganz Misere. Der ganze Veranstaltungsplatz ist in Blau getaucht, ein Blau, dass von dem in verschlossenen Plastikbechern verkauften Trinkwasser stammt. Abgesehen davon, dass die Becher an und für sich eine Umweltkatastrophe sind, werden sie auch nicht in Mülleimern gesammelt, sondern einfach auf die Straße geworfen, wo sie ein blaues Meer aus Plastik bilden.


Was vom Fest übrigbleibt: Plastikbecher auf der Straße.

"Am Abend kommen die `Catadores`, die Müllmenschen, und sammeln alles ein", erklärt Fabio, "und zwar unentgeltlich". Für mich, die ich teuer für die Müllentsorgung zahle, ein unvorstellbares Modell. Aber für die Regierung ist es günstiger, arbeitslose Landflüchtlinge diesen Job verrichten zu lassen, als in teure LKWs zu investieren und Arbeiter zu einem fixen Lohn einzustellen. Die Catadores schleppen ihre Wagen entweder selber durch die Straßen oder lassen, wenn sie das Geld dafür haben, halbverhungerte Gäule und Esel die Karren ziehen.

Einbahnstraße Catador

Natürlich wird die Sachlage in der offiziellen Version anders dargestellt. Die Müllmenschen seien ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft, heißt es von Seiten der Regierung. Heute sind sie anerkannte Arbeiter mit Sozialversicherung und Rechtsvertretung. Die Arbeit als Müllsammler ist so einträglich, dass sogar Kinder in der Nacht ausschwärmen, um die Müllsäcke zu durchwühlen und Essensreste von Kunststoff, Papier und Metall zu trennen. Dass da oft keine Zeit für die Schule bleibt stört nicht, denn als Müllsammler braucht man keine Englischkenntnisse und wer hat schon die Muße, sich der Literatur zu widmen, wenn er zwischen Kadavern und giftigen Lacken nach Verwertbarem sucht.

Das Bewusstsein der Menschen für das Müllproblem ist gering. Man konsumiert, produziert Unmengen an Müll, um die Entsorgung kümmern sich jene, die im Dunkeln in den Resten wühlen, bezahlt wird nicht. Ihren Lohn bekommen die Catadores von den Recyclingfabriken, die den sortierten Müll weiterverarbeiten. Die Catadores bleiben arm.

Erbe der Sklaverei

Die brasilianische Gesellschaft ist, zumindest hier im Nordosten des Landes, unbarmherzig. "Historisch bedingt ist man es einfach gewohnt, dass jemand unentgeltlich arbeitet und das Ziel vieler ist es, zu arbeiten um irgendwann für sich arbeiten zu lassen", erkärt Fabio. Man schafft an und kassiert und achtet darauf, dass es immer genügend gibt, die am Hungertuch nagen, damit der Strom an billigen Arbeitskräften nicht versiegt.

Vor allem hier in Pernambuco, wo die Sklaverei ihren Anfang nahm, ist man es gewohnt, für sich arbeiten zu lassen. Wer es sich leisten kann, hat mindestens ein Hausmädchen, das sich um Haushalt und Kinder kümmert - und fast alle Hausmädchen sind dunkelhäutig. Man ist es auch gewohnt, Arbeit einfach nicht zu bezahlen. Die Tradition, Leistung zu erhalten und nichts dafür zu bezahlen ist immer noch allgegenwärtig.

Die andere Seite der Medaille revanchiert sich damit, nach der ersten Entlohnung die Arbeit einzustellen und einfach nicht mehr zu erscheinen. So ist es durchaus üblich, dass man auf halbfertigen Projekten sitzenbleibt, weil man einen Teilbetrag der Kosten bezahlt hat und der Arbeiter lieber feiern geht, als noch einmal am Arbeitsplatz zu erscheinen.

Vergessene Geschichte

Die Geschichte Brasiliens wurde bis heute nicht ernsthaft aufgearbeitet. Langsam, langsam beginnt man damit, über die Geschehnisse der Vergangenheit zu sprechen. Langsam, ganz langsam versucht man, dem Rassismus Herr zu werden - mit strengen Gesetzen und Strafen. Sagt man zu jemandem "Negro", wandert man umgehend für einen Tag ins Gefängnis. Gleichzeitig sind immer noch fast alle Fernsehsprecher Weiße und das Servicepersonal in den Hotels besteht beinahe ausschließlich aus Afrobrasilianern.

Nichts erinnert an die tausenden ermordeten Indios, an die tausenden misshandelten Sklaven, an die Opfer der Dikatur. "Wir sind doch alle Indios", erklärt ein Guide. Alle haben sie gemordet, alle waren sie Opfer. Wenn man heute jemanden damit konfrontiert, während der Militärdiktatur 300 Menschen ermordet zu haben, dann bekommt man maximal: "Ja, und?", zur Antwort, erklärt Fabio. 


Die Opfer sind nicht länger anonym, haben nun einen Platz, an dem die Erinnerung an sie lebendig bleibt.

Aber das Land im Wandel und die Dinge ändern sich. Langsam. Mit Gedenkstätten und Mahnmalen wird in Recife und landesweit seit einigen Jahren Bewusstsein dafür geschaffen, dass Rassismus, Gewalt, Sklaverei und Ausbeutung nicht Bestandteil der Gesellschaft sein dürfen und dass Menschenrechte nicht von der Hautfarbe abhängen. Nicht mehr. (Mirjam Harmtodt/derStandard.at/30.03.2010)

>> Zur Ansichtssache über die vergnüglichere Seite der Stadt: Hühnertorte und "Suco Brasil"